Voller Akku in vier Minuten

Von Paul-Janosch Ersing

Exakt 513 Kilometer Reichweite zeigt der Bordcomputer bei vollständig geladenem Stromspeicher an: Für die rund 440 Kilometer zum Münchner Flughafen und zurück sollte eine Akkufüllung also ausreichen – eigentlich. Denn während der kalten Jahreszeit sind solche rechnerischen Puffer schnell aufgebraucht – und nicht jeder möchte sich ständig als Sparsamkeits-Weltmeister fühlen und mit höchstens 110 km/h auf der Autobahn unterwegs sein. Ehrlich gesagt beginnen im Alltag die wenigstens Elektroauto-Fahrten mit einem vollständig geladenen Akku. Da hilft also nur ein Ladestopp an einer der sich stetig vermehrenden Schnellladesäulen, was mindestens 15 bis 20 Minuten vom knappen Zeitkonto fressen würde.

Gut, dass es auch schneller gehen kann! Denn der chinesische Automobilhersteller Nio bietet seinen Kunden einen besonderen Service, von dem Elektroautofahrer anderer Fabrikate nur träumen können: Batterie-Wechselstationen entlang wichtiger Fernverkehrsrouten quer durch Deutschland. Bei hierzulande derzeit neun dieser Stationen kann von flächendeckend zwar noch keine Rede sein; aber es ist ein bemerkenswertes Projekt und ein Alleinstellungsmerkmal der jungen Marke. Entlang der A8 herrscht beinahe ein Überangebot: Man hat die Wahl zwischen Zusmarshausen und Ulm-Ost.

Richtung München entscheiden wir uns für Zusmarshausen. Das mit dem Internet verbundene Navigationssystem im Nio ET5 Touring berechnet den Umweg für den Akkuwechsel-Stopp mit sieben Minuten und schickt direkt eine entsprechende Reservierung an die vollautomatische Station. Gut, dass die Ankunftszeit für 09:04 Uhr kalkuliert wird, denn die Station hat derzeit nur im begrenzten Zeitfenster von 9 bis 19 Uhr geöffnet. In Zukunft sei ein 24-Stunden-Betrieb angepeilt, versichert uns ein Unternehmenssprecher.

Kurz nach Neun nehmen wir die Ausfahrt und folgen den Navi-Hinweisen zur Akku-Wechselstation, die bei Nio den Namen Power Swap Station (PSS) trägt. Kurzer Zeit später begrüßt uns ein schlichter grau-silbriger Container mit auffälligen Fahrbahnmarkierungen. Die quirlige Sprach-Assistentin Nomi hatte bereits angekündigt, dass keine anderen wechselwilligen Nio-Kunden vor uns an der Reihe seien. Also stellen wir den Elektro-Kombi direkt auf der dafür vorgesehenen Fläche ab – mit einer angezeigten Restreichweite von 57 Kilometern.

Auf Knopfdruck manövriert das Auto selbsttätig rückwärts in die Wechselstation. Nach einer weiteren Bestätigung auf dem zentralen Bildschirm startet der automatisierte Akkutausch. Die Zeit läuft: Der Nio wird spürbar aufgebockt, elektrische Schrauber lösen die Verbindungen am Unterboden, und der Akku mit einem Füllstand von 11 Prozent verschwindet auf Nimmerwiedersehen im Container. Einen Augenblick später surrt ein neuer Akku (Füllstand: 90 Prozent) heran und wird mit dem Fahrzeug verschraubt. In weniger als vier Minuten ist der Nio wieder einsatzbereit, der Bordcomputer verspricht 462 Kilometer Reichweite. Lächelnd fahren wir zurück zur Autobahn, vorbei an all den schnellladenden Elektroautos, deren Fahrer sich geraden den Ladestopp schönreden und dabei ein überteuertes Heißgetränk zu sich nehmen. Es ist ein Privileg, mit einem Nio ET5 Touring (ab 47.500 Euro zuzüglich 289 Euro Akku-Monatsmiete) unterwegs zu sein – kein ganz günstiges und eines mit Mindesthaltbarkeitsdatum. Denn wenn eines Tages mehr als eine Handvoll Autos der Marke in Süddeutschland durch die Gegend fahren, werden die beiden Stationen in Ulm und Zusmarshausen rasch an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Wechseln ohne Wartezeit wird man dann nur noch vom Hörensagen kennen.

Autogramm

Nio ET5 Touring, 100 kWh

Typ: Mittelklasse-Kombi; Preis: 68.500 Euro; Länge: 4,79 Meter; Breite: 1,96 Meter; Höhe: 1,50 Meter; Radstand: 2,89 Meter; Leergewicht: 2285 Kilogramm; Zuladung: 445 Kilogramm; Kofferraum: 450 Liter; Sitze: fünf; Motoren: Induktionsmotor (vorn) und Permanent-Magnet-Motor (hinten); Gesamtleistung: 490 PS/360 kW; Drehmoment: 700 Newtonmeter; Spitze: 200 km/h; 0 auf 100 km/h: 4,0 Sekunden; Batterietyp: Lithium-Ionen-Akku; Batteriekapazität: 100 Kilowattstunden (kWh); Ladeleistung: 140 kW; Reichweite (WLTP): 560 Kilometer; Stromverbrauch (WLTP): 19,3–21,6 kWh/100 Kilometer; Testverbrauch: 20,4 kWh/100 Kilometer, entsprechender CO2-Ausstoß (deutscher Strommix 2022: 434 g/kWh): 88,5 Gramm/Kilometer.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Schlagwörter: