Kamera statt Heckscheibe

Alltagstest: Der Polestar 4 ist derzeit das wohl ungewöhnlichste der drei Polestar-Modelle aus dem chinesischen Geely-Konzern – eine Mischung aus Limousine mit großer Heckklappe und Hochbeiner. Auf jeden Fall fährt er komplett batterieelektrisch, bietet eine sehr hohe Leistung samt luxuriöser Ausstattung. Ist er begehrenswert? Da haben wir zwiespältige Erfahrungen gemacht.

Von Gundel Jacobi

Was ist das für ein Auto? Es ist schon kurios: Einerseits ermöglicht ein großes Panoramaglasdach von oben ein lichtdurchflutetes Inneres, andererseits ist das komplett verblechte Heck – ein Fenster dort hinten gibt es nicht – die Dunkelkammer des SUV-Coupés. In jedem Fall ist diese Entscheidung gewissermaßen konsequent und mutig. Die Schweden dachten offenbar: Da heutzutage die Sicht nach hinten durch weit nach oben gezogene Gepäckräume und niedrige Heckscheiben – oft noch schräg gestellt – sehr eingeschränkt ist, gehen wir noch einen Schritt weiter und lassen das dortige Fenster gleich ganz weg. Stattdessen überträgt im Polestar 4 eine Kamera auf der Heckblende die rückwärtige Situation auf den Innenspiegel – präzise und weiträumig in der Darstellung. Unser Eindruck: Das Umdenken findet im Kopf statt und gelingt für den Menschen am Steuer nach etwas Eingewöhnung. Allerdings verlangt die Umstellung der Augen von fern auf nah – anders bei einem normalen Spiegel – naturgemäß eine gewisse Anstrengung. Den Passagieren im Fond ging es prinzipiell anders, denn auch wenn sogar ein mildes Kunstlicht hinten am Blech vorhanden ist: Ein bisschen fühlen sich sensible Seelen wie in einer Gruft. Die entscheidende Frage bleibt aber, welchen Zusatznutzen dieses ganze Brimborium haben könnte. Da fällt uns beim besten Willen keiner ein – außer, dass in der Produktion auf den Fenstereinbau verzichtet werden kann.  

Welche Platzverhältnisse gibt’s in dem Auto? Abgesehen von dieser besonderen Hecksituation besticht der fast fünf Meter lange Polestar 4 durch Geräumigkeit. Selbst im Fond hat’s ordentlich Platz, die Dachschräge ist wegen des hoch montierten Panoramadachs kein Problem. Langbeiner können jedoch wegen der tiefen Sitzflächen und des vergleichsweise hohen Bodens die Schenkelauflage nicht perfekt nutzen. Der Kofferraum liefert mit 526 Liter gutes Volumen, natürlich setzt die abgeschrägte Dachform zum Heckabschluss hin gewisse Grenzen für sperrige Güter.

Was bietet einem das Auto? In dieser gehobenen Fahrzeugklasse gehören feine Sitze, Materialien, umfassende Stromladeinfos und zahlreiche Assistenzsysteme zum guten Ton, zumal man von der Volvo-Mutter den Schwerpunkt Sicherheit geerbt hat. Gleichzeitig zeugt die Abwesenheit von Schaltern von einem gewissen minimalistischen Zeitgeist, dass im Cockpit so viel wie möglich glattgebügelt ist. Nur noch wenige Steuerungsflächen an den breiten Lenkradspeichen lenken schließlich alles Schalten und Walten zum Breitkant-Monitor: Dort kann und muss man sich nach Kräften austoben lernen – zugegebenermaßen ziemlich logisch aufgebaut. Dass die Außenspiegeleinstellung zunächst auf dem Bildschirm aktiviert wird, um dann mittels Lenkradflächen alles einzustellen, ruft im Autozirkus der Absonderlichkeiten mittlerweile keine Verwunderung mehr hervor. Aber warum das Handschuhfach auch keinen Direktzugriff mehr erlaubt, sondern den Druck aufs Monitorfeld voraussetzt: rätselhaft. Wir warten schon lange darauf, dass in gar nicht ferner Zukunft auch die Fensterheber wegfallen – ab zum Monitor! Verwunderlich fanden wir zudem das höchst feinfühlige Türöffnungssystem, das automatisch fernentriegelnd selten funktionierte. Aber auch beim Handanlegen war es kaum besser: Nicht nur einmal hatten wir die Türklinken entweder sanfter oder fester mehrmals hintereinander in den Griff zu nehmen, damit die Entriegelung Erbarmen zeigte.  

Welchen Antrieb hat das Auto? Beim Polestar 4 kann man zwischen einem 272 PS/200 kW starken Hecktriebler oder einem 544 PS/400 kW-Allradler wählen. Wenn schon, denn schon: Wir bewegten Letzteren, der dank seines Leergewichts von nahezu 2,5 Tonnen einem stets das Gefühl gab, in einem echt satt auf der Straße liegenden, komfortablen Fahrzeug zu sitzen. Überdies lösen der drei Meter lange Radstand und eine ausgeklügelte Luftfederung das angenehme Insassenkomfort-Versprechen ein. Spielereien, wie das Federungsgefühl statt auf Standard auch noch agiler oder fester einstellen zu können, sind für den leidenschaftlichen Fahrer dann wichtig, wenn er entsprechende Tempo- und Lenkforderungen an den Polestar 4 stellt. Wir hatten übrigens trotz beeindruckender 544 Pferde niemals das Gefühl, in einem Rennwagen zu sitzen; eher in einem zivilisierten Gleiter, der jederzeit seine Reserven abrufen lässt. Dank seiner Überbreite von 2,07 Meter ist es ratsam, an Baustellen die rechte Spur zwischen den Lastern zu nutzen.

Die Reichweite wird beim allradgetriebenen Modell mit 590 Kilometer angegeben, was wir niemals ganz auszureizen gewagt hätten. Nicht ganz überraschend war die Erkenntnis, dass man bei zurückhaltendem Autobahntempo bis 120 und Außentemperaturen im zweistelligen Bereich 450 Kilometer schaffen kann, ohne in kritische Ladezustände zu geraten. Legt man es indes darauf an, sich der Höchstgeschwindigkeit von 200 km/h zu nähern, was für einen Stromer tatsächlich nicht die Regel sein dürfte, gibt die merklich schwindende Reichweite darüber gnadenlose Auskunft.  

Autogramm

Polestar 4 Long Range Dual Motor Allrad

Typ: SUV-Coupé; Preis: 65.900 Euro; Länge: 4,84 Meter; Breite: 2,07 Meter; Höhe: 1,53 Meter; Radstand: 3,00 Meter; Leergewicht: 2430 Kilogramm; Zuladung: 380 Kilogramm; Kofferraum: 526-1536 Liter; Sitze: fünf; Anhängelast: 2000 Kilogramm; Antrieb: Permanentmagneterregter Synchron-E-Motor; Leistung: 544PS/400 kW; Drehmoment: 686 Newtonmeter; Spitze: 200 km/h; 0 auf 100 km/h: 3,8 Sekunden; Batterietyp: Lithium-Ionen-Akku; Batteriekapazität: 100 Kilowattstunden (kWh); Reichweite (WLTP): 590 Kilometer; Wallbox Wechselstrom 11 kW: 11 Stunden, Ladestation Gleichstrom 200 kW: 30 Minuten (80 Prozent), Stromverbrauch (WLTP): 21,7 kWh/100 Kilometer; CO2-Ausstoß: 78,1 Gramm/Kilometer (Strommix Deutschland); Testverbrauch: 23,5 kWh/100 Kilometer.


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