


Leidenschaft bis zur Raserei
In einem unscheinbaren Bau auf dem ehemaligen Werksgelände in Arese vor den Toren Mailands sind die Meilensteine der Automobilmarke Alfa Romeo versammelt und machen ihn zu einem Pilgerort, nicht nur für eingeschworene Alfisti.
Von Gundel Jacobi
Rote Belohnung. Der letzte Kreisverkehr vor der Einfahrt auf das legendäre Gelände lässt die Erwartungen nochmal in die Höhe schnellen: geballte Historie einer mit offensichtlicher Leidenschaft gepaarten Automarke am ehemaligen Alfa-Romeo-Sitz in Arese nahe Mailand. Nachdem man sich über den weitläufigen Parkplatz herangepirscht hat, macht sich etwas innere Abkühlung breit: In diesem grauen Betonbunker soll der italienische Inbegriff automobiler Begeisterung in Szene gesetzt sein? Tatsächlich ist die äußerlich wenig berauschende Hülle ein Zeitzeuge aus den 1970er Jahren – die einstigen Firmen-Verwaltungsgebäude bekommen mit der Denkmalschutz-Ehre doch noch den Dreh raus. Denn mehr bewahrte Echtheit geht nicht. Mit jedem Schritt näher steigt sodann wieder die Vorfreude. Spätestens in den komplett neuzeitlich ausgerichteten Fluren und Sälen auf sechs Ebenen ist jegliche gräuliche Substanz vergessen: Hier drinnen regiert funkelndes und glänzendes Rot. Nicht nur eingefleischte Alfisti tauchen ein in die Welt von Alfa Romeo – willkommen geheißen und untermalt vom anschwellenden Motorengeräusch der heißen Verbrenner-Philosophie.
Sammelsurium der Lieblingsmodelle. Begonnen hat übrigens alles im Mailänder Quartier Portello, wo am 24. Juni 1910 lombardische Geschäftsleute die Anonima Lombarda Fabricca Automobili (A.L.F.A.) gründeten. Als Urahn gilt in jenem Jahr der 24 HP, der sich auf den ersten Blick nicht sonderlich von den Automobilen seiner Zeit unterscheidet. Aber: Seine Hinterräder werden nicht per Kette, sondern mit einer Kardanwelle angetrieben. Anderen immer ein wenig voraus zu sein, das war seit Anbeginn das Ziel der Automarke weit über ein Jahrhundert lang. Etwas zum Schmunzeln kann man der Legende nach ebenfalls am 24 HP erkennen, nämlich die sprichwörtliche italienische Art, mit Regeln umzugehen: Eigentlich galt damals die interne Vorgabe, dass nicht mehr als 30 PS Leistung vorhanden sein durfte. Tatsächlich packten sie jedoch 42 PS ins Automobil. Dann drehte man die Zahl einfach um, und mit der Bezeichnung 24 kam niemand ins Grübeln. Der aus Holz gefertigte 24 HP im Museum ist ein ganz besonderes Wertstück, gilt er doch als einziger Überlebender aus der Produktion von 200 Stück. Fragt man Museumsführer Alberto, welche Fahrzeuge im Publikum denn die größte Aufmerksamkeit erregen, schlägt dieser die Hände überm Kopf zusammen: Natürlich alle Modelle! An dieser Stelle kann also stellvertretend nur eine kleine Auswahl der Ausstellungsstücke erwähnt werden. Abgesehen von der auffälligen Goldlackierung des RL SuperSport von 1925 würde man vielleicht sogar an diesem Automobil vorbeigehen. Es lohnt sich jedoch ein genauerer Blick, denn zahlreiche winzige, handgehämmerte Löcher in der Alukarosserie deuten auf deren besondere Bearbeitung und die damit verbundene Maserung hin. Da geraten die erstmals verwendeten elektrischen Scheinwerfer beinahe ins Hintertreffen. Angeblich wurde genau dieser RL SuperSport für einen indischen Maharadscha gebaut – dies könnte stimmen, da der Wagen schließlich in Pakistan aufgetrieben und in die Alfa-Schatzkammer gebracht wurde. Sein Dreiliter-Sechszylinder mit atemberaubenden 83 PS ließ den Wagen auf Tempo 130 hochschnellen.
Legenden und Symbole. Apropos schnell: Schon früh mischte Alfa bei Rennen mit. Alberto erzählt vom Werksfahrer Ugo Sivocci, der 1922 bei der Targa Florio auf Sizilien die Startnummer 13 zugeteilt bekommt. Der abergläubische Mann ist entsetzt und wild entschlossen, das Rennen abzusagen. Ein Mechaniker erkennt den Ernst der Lage und hat die rettende Idee – kurzerhand malt er ein vierblättriges Kleeblatt in einer weißen Raute auf den Rennwagen. Sivocci ist zufrieden, mehr noch: Der Glücksbringer beschert ihm den Sieg! Dieses grüne Kleeblatt (ital. „quadrifoglio verde“) ziert bis heute besonders leistungsstarke Alfa-Serienmodelle. Dass man sich schon früh in Ermangelung jeglicher Sicherheitssysteme dennoch im Klaren darüber war, welche Gefahren in einem Automobil lauerten, kann man ganz nebenbei beim 8C 2300 Corto von 1932 entdecken. Auf dem beim Langstreckenrennen Mille Miglia eingesetzten Wagen prangt ein Heiligensymbol: „Rasen und Beten!“ mag die Devise gewesen sein. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgt die vergleichsweise bieder aussehende Limousine 1900, die ab 1950 vor allem eins einläutet: den unaufhaltsamen Alfa-Weg zum Großserienhersteller. Von den verschiedenen 1900-Versionen entstehen gut 21.000 Fahrzeuge! Richtig aufwärts mit sechsstelligen Stückzahlen geht es ab 1955 mit der berühmten Giulietta Berlina – von der italienischen Presse vollmundig als Wunder von Mailand bezeichnet. Kurz vorher ist übrigens das bei Bertone in Kleinserie gefertigte Coupé Giulietta Sprint auf dem Turiner Autosalon zu sehen. Dahinter wiederum steckt die kuriose Geschichte, dass 1954 im Rahmen einer Lotterie für Schuldscheinzeichner Anwartschaften auf die ersten 1000 Giuliettas verlost werden. Die viertürige Limousine braucht aber noch Entwicklungszeit – nach italienischer Improvisationskunst entsteht also zuerst das Coupé, um die Autozusage später einhalten zu können.
Tomatensauce und Hollywoodfilme. Im Museum steht unter anderem eine 1955er-Giulietta in einer auffälligen Lackierung: Das helle Tomatenrot bezaubert anno dazumal manche modebewusste Italienerin und inspiriert zu ebensolcher Farbwahl ihres Hutes oder ihrer Handtasche. Dem Vernehmen nach erschien den Verkaufsstrategen die Bezeichnung (im Volksmund: Tomatensoße mit Sahne) aber als verunglimpfend. Fortan bestellte man jene Farbnuance als Korallenrot. Immer wieder geben sich innerhalb der Firmengeschichte unvergessene Stars die Alfa-Türklinken in die Hand – oft in Szene gesetzt von nicht minder bewunderten Meistern namens Pininfarina, Bertone und Giugiaro: Giulia in allen Variationen ab 1962, der legendäre Spider ab 1966. Letzterer erlangte mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit wie der Hollywood-Film „Die Reifeprüfung“, in dem der jugendliche Liebhaber von Mrs. Robinson beim offen Fahren einen klaren Kopf kriegen will. – Noch heute wird der 1971 auf die Bühne gebrachte Alfasud mit 1 Million Verkäufe als Bestseller bezeichnet. In der Realität ging aber mit dem flott gezeichneten Kompaktmodell nicht alles glatt. Innenpolitische Gründe führten dazu, dass er im süditalienischen Neapel produziert wird. Streiks sorgen für Produktionsausfälle und deutliche Qualitätsschwankungen, in erster Linie Rostbefall. Das geht einem unwillkürlich durch den Kopf, während Alberto davon berichtet, dass nahezu jeder Gast vor dem Alfasud stehenbleibt und in eigenen Erinnerungen kramt.
Gepanzertes Rätsel. Je länger die Tour durch die ineinander übergehenden Räumlichkeiten geht, umso mehr muss man dem Museumsführer recht geben: Es gibt kaum ein Auto, dem man nicht mehr als einen flüchtigen Blick widmet. Die Faszination für die bildschönen Formen, sprungbereiten PS-Boliden, Einzelanfertigungen und teilweise irrwitzigen Versuchsfahrzeuge nutzt sich nicht ab, im Gegenteil: Das Auge wird geschärft. Deshalb lässt einen gegen Ende ein in die Jahre gekommener blauer Carabinieri-Alfa keine Ruhe, an dessen linker Türseite ein zwei Euro großes Loch zu sehen ist. De Karosserie ist gepanzert und das Loch deutlich erkennbar gewollt hineingestanzt. Alberto indes ist längst entschwunden, nach des Rätsels Lösung fragen wir ihn das nächste Mal.
Informationen:
Museo storico Alfa Romeo
Viale Alfa Romeo 20020 Arese (Mi) – Italien
Öffnungszeiten: Täglich geöffnet von 10:00 bis 18:00 Uhr (Dienstags geschlossen)
Website: www.museoalfaromeo.com


